Die Börse strauchelt gewaltig, die Buchmacher und Banker sind verunsichert, die Brexit-Nachrichten überholen einander. Was als nächstes passiert, ist den Menschen dort und auch in den anderen Teilen der EU unklar. Ob die Briten mit dem Brexit einen Fehler begangen haben und die gesamte Londoner Startup-Szene nun nach Berlin zieht?
Man mag über "die in Brüssel" denken, was man will. Wahrscheinlich haben alle EU-Abgeordneten gerade selbst viel mit sich zu hadern. Die EU ist langsam, bürokratisch, kleinkariert. Vielleicht. Aber sie ermöglicht einen freien Handelsraum ohne Zölle und stundenlangen Grenzkontrollen, sie erlaubt vielen Menschen, sich den Arbeitsort aussuchen zu können. Englische Designer arbeiten in Berlin, ein französischer Bauleiter in Litauen, ein dänischer Architekt in Italien. Die EU bindet 28 - nun wohl 27- Länder aneinander, rückt durch europäische Förderung von Infrastruktur-Projekten näher zusammen. Dies ist ein wichtiger Punkt für die Startups in Europa, genau wie im Rest der Welt. Dass ohne Visum innerhalb Europas frei gereist und gearbeitet werden kann, ist besonders für die Startups wichtig.
Für uns als Companisto ist das Alltag. Die Mitglieder unseres Teams kommen aus den verschiedensten Ländern: Oksana aus der Ukraine, Christos aus Griechenland, Cristi, Aurel und Adrian aus Rumänien und René könnte man fast als Halb-Franzosen bezeichnen. Es macht uns offen und interkulturell - ein Vorteil der EU. Viele Startup-Teams sind aus den unterschiedlichsten Nationen zusammengewürfelt, anders könnten wir zum Beispiel das Entwickler-Problem in Deutschland gar nicht lösen. Wir haben einfach nicht genug.
In Großbritannien sieht das allerdings nicht anders aus. Besonders London ist für junge Arbeitssuchende weltweit erster europäischer Anlaufort. Nirgendwo sonst sitzen so viele internationale Banken, wie hier. Jedes Jahr konkurriert es dennoch mit der vibrierenden Kreativ-Szene aus Berlin, um Finanzierungsrunden, die erfolgreichsten Startups, die meisten Neugründungen. Ist das jetzt vielleicht vorbei?
Online-Medien wie Gründerszene und Wired beschreiben bereits die Möglichkeit, dass Frankfurt oder Berlin die FinTechs aus London übernehmen könnten. Bloomberg berichtet von sieben FinTech-Startups, darunter Revolut und TransferWise, die ernsthaft überlegen, London den Rücken zu kehren. Der Eintritt in den europäischen Markt ist das was viele junge Unternehmen möchten. Wenn London nicht mehr eine der Hauptstädte der EU ist, wären andere Metropolen wie Dublin, Berlin oder Amsterdam demzufolge attraktiver.
Außerdem nutzen gerade FinTech-Startups europäische Zahlungsrichtlinien und haben darauf ihr Geschäft gebaut. Und natürlich ist die Finanzierung ebenfalls ein Grund, London den Rücken zu kehren. Förderprogramme und europäische Partnerschaften könnten nicht mehr in Anspruch genommen oder ohne weiteres fortgesetzt werden. Die führende Finanzinstitution für Risikokapital in Europa ist der European Investment Fund, welcher der Europäischen Investment Bank und der Europäischen Union gehört. 2,8 Milliarden Euro wurden 2015 für britische Startups und KMUs von dem Fund gestellt. Die Zukunft dieser europäischen Investments ist unklar, wie so vieles auch.
Forbes schreibt, das 90% aller Gründer für einen Verbleib in der EU gestimmt haben. Brent Hoberman, Mit-Gründer des E-Commerce-Startups Made.com und der Founders Factory, beschreibt außerdem psychologische Auswirkungen im Büro: "Die Leute fühlen sich zurückgewiesen. Ich glaube, diejenigen, die für die Leave-Kampagne stimmten, haben die psychologischen Auswirkungen unterschätzt, die die Ablehnung von Offenheit hat. "
Thomas Grota, Venture Capitalist bei der Deutschen Telekom aus Köln, diskutiert die Folgen des Brexit für Startups und VCs auf Twitter und ahnt einen Talente-Abwanderungs-Trend voraus: "Die Märkte werden ihren Weg aus dem Brexit finden. Die Londoner Startup-Szene und VC/Investoren nicht. Gewaltiger Abzug von Geld und Talenten aus London in die EU wird kommen."
Die zwei Jahre dauernden Exit-Verhandlungen schaffen vor allem Unsicherheit. Unsicherheit, die sich schnell wachsende Startups in anderen europäischen Metropolen der Europäischen Union sparen können. Ob nun jedoch alle nach Berlin ziehen, bleibt fraglich, da es bereits als Startup-Hub in aller Welt bekannt und dementsprechend gut gefüllt ist. Deshalb könnten auch andere deutsche Städte wie Köln, Frankfurt oder Hamburg durch den Zuzug von Startups vom Brexit profitieren.
Erwähnenswert bleibt jedoch, dass mit dem Austritt Großbritanniens aus der EU auch der europäische Binnenmarkt um ein ganzes Stück kleiner geworden ist. Ob die Entrepreneure dafür eine Lösung finden werden?
Natürlich wird der Brexit auch Auswirkungen auf die britischen Crowdfunding-Plattformen haben. James Codling, Gründer der Crowdinvesting-Plattform VentureFounders, schreibt in der CityA.M., einem täglichen Business-Magazin aus London, über Vor- und Nachteile die im Bereich Crowdfunding und Crowdinvesting auf die Briten zukommen könnten. Dabei sei anzumerken, dass er deutlich für "Leave" (Verlassen) gewählt zu haben scheint.
Nachteilig wird sich der Brexit vor allem auf die Investoren und Unterstützer auswirken - die Crowd an sich. Durch die ökonomische Unsicherheit in den nächsten zwei Jahren und eine eventuell folgende, weitere Zurückhaltung, werden sie noch viel mehr abwägen, in was sie investieren wollen, als bisher. In der Folge könnten weniger Unternehmen mit durchschnittlich weniger Geld unterstützt werden. Auch die Startups werden das merken und müssen sich in Zukunft über die Anpassung ihrer Wachstumspläne, Business Modelle und Art der Personalbeschaffung Gedanken machen.
Positiv sieht Codling, dass die Unternehmensbewertungen möglicherweise sinken und der höhere mögliche Gewinn wiederum mehr Investoren reizen. Außerdem wäre man ohne die lähmenden EU-Richtlinien flexibler, das Ökosystem in London durch steuerliche Regelungen zu verbessern.
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